09.08.2017

Estland übernimmt EU-Präsidentschaft zu einem kritischen Zeitpunkt

Estland übernimmt EU-Präsidentschaft zu einem kritischen Zeitpunkt - EVS Translations
Estland übernimmt EU-Präsidentschaft zu einem kritischen Zeitpunkt – EVS Translations

Am Samstag, 1. Juli 2017, übernahm Estland die Präsidentschaft des Rats der Europäischen Union, 6 Monate früher als ursprünglich geplant, nachdem die Briten, die turnusmäßig an der Reihe gewesen wären, infolge des Brexit verzichtet hatten und sich stattdessen auf die Verhandlungen für den Austritt aus der Brüsseler Gemeinschaft konzentrieren wollen.

Die Präsidentschaft ist erst wenige Tage alt, da sieht sich das baltische Land durch Regierungskonflikte zerrissen und vor einer möglichen Minderheitenregierung, ja vielleicht sogar vor einem Regierungszusammenbruch und vor Neuwahlen.

Zwar wäre ein solches Szenario kein Präzedenzfall, denn ein Misstrauensvotum brachte bereits 2009 die tschechische Regierung nach der Hälfte ihrer EU-Ratspräsidentschaft zu Fall, doch versicherte der estnische Premierminister Juri Ratas, mit 39 der jüngste Premier in der EU, seinen EU-Partnern, dass „die Regierungskoalition stabil ist und die EU-Präsidentschaft sehr ernst nimmt“, und er bekräftigte nochmals seine Worte aus einer Berliner Sitzung: „Während unserer Präsidentschaft wird es unser vorrangiges Ziel sein, den Zusammenhalt und die Einheit zwischen den EU-Staaten zu erhalten.“

Die Aufgabe Estlands während seiner sechsmonatigen Präsidentschaft wäre in der Tat auf „den Aufbau einer sicheren Zukunft für alle Europäer“ fokussiert, mit folgenden Schwerpunkten: Sicherheit und Schutz durch Verstärkung des Kampfs gegen Terrorismus und Kriminalität und Fortsetzung der Arbeit im Bereich Flüchtlingskrise; Förderung eines inklusiven und nachhaltigen Europas; Förderung einer offenen und innovativen Wirtschaft und Gesellschaft, mit Fortschritten bei Digitalisierung und freiem Datenfluss.

Und da wir gerade von Digitalisierung sprechen, wer wäre dafür besser geeignet als Estland? Das Land hat eine der technologisch fortschrittlichsten Gesellschaften der Welt und hat sich den ersten Platz im Digitalisierungsindex des EU-Berichts gesichert. Es ist führend auf dem Gebiet E-Government und elektronische öffentliche Dienstleistungen.

Während seiner Präsidentschaft würde Estland mit Sicherheit den Rahmen der digitalen Dienstleistungen und die digitalen Aspekte aller EU-Richtlinien weiter voranbringen, wobei die größten Herausforderungen sicherlich die noch nicht abgeschlossene Gesetzgebung zur Urheberrechtsreform, die Direktive zum Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt, und ein Aufruf zur ePrivacy-Regulierung wären, die den höchsten Schutz der Vertraulichkeit in allen elektronischen Kommunikationsdiensten garantieren soll.

Die estnische Präsidentschaft ist aufgefordert, das Pariser Abkommen vollständig umzusetzen und den globalen Übergang zu sauberer Energie anzuführen, wobei sie das Paket der Europäischen Kommission, Saubere Energie für alle Europäer, vorantreiben muss. Aber da wäre auch noch das Projekt Nord Stream 2, die russische Gas-Pipeline durch die Ostsee nach Deutschland, bei dem Estland ein umfassendes Mandat für die Erörterung aller Gasimporte aus Russland fordert, wobei es möglicherweise viele Unstimmigkeiten gibt, da dies für einige Mitgliedsstaaten eine äußerst sensible Angelegenheit ist und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland um weitere sechs Monate verlängert wurden.

Während seiner EU-Präsidentschaft könnte Estland auch mit schweren Differenzen hinsichtlich der Aufnahme von Asylsuchenden in Europa zu kämpfen haben, denn in der letzten Sitzung des Europäischen Rats konnten die Staats- und Regierungschefs der EU keine Einigung über eine Reform der Gemeinsamen europäischen Asylpolitik erzielen.

Estland übernimmt die Präsidentschaft zu einem kritischen Zeitpunkt in Europa – Flüchtlingskrise, terroristische Bedrohung, die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien, die Versuche Russlands, die Politik der EU zu beeinflussen, die anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland. Matti Maasikas, Estlands stellvertretender Minister für EU-Angelegenheiten drückte es so aus: „Wenn wir in ein paar Jahren zurück schauen, dann war 2017 vielleicht das schwerste Jahr ….Die EU muss sich jetzt ihre Legitimierung von ihren Bürgern zurück holen. Diese Notwendigkeit ist größter als jemals zuvor.“

Das Motto der estnischen Präsidentschaft des Rats der Europäischen Union heißt ‚Einigkeit durch Gleichgewicht‘, und Estland wird sich um ein Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Interessen in Europa bemühen, um für alle Bürger der EU das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.