11.05.2020

Euro-Englisch

Euro-Englisch – Wort des Tages – EVS Translations
Euro-Englisch – Wort des Tages – EVS Translations

Englisch ist eine absolut faszinierende Sprache. Sie ist ein Produkt aus Westgermanisch, Altnormannisch/Altfranzösisch, Griechisch, Latein und Lehnwörtern aus vielen anderen Sprachen. Englisch ist einfach und kompliziert zugleich. Genau hier lauert die Falle: Wie bei einem festlichen Gedeck im viktorianischen Stil verraten Geschirr und Besteck (im übertragenen Sinn die Worte), die Sie für einen bestimmten Gang (in einer bestimmten Situation) verwenden, viel über Sie. Oder frei nach Britta-Savarin: „Sag mir, was Du sprichst, und ich sage Dir, was Du bist.

Englisch ist eine globale Sprache mit unzähligen Standardvarietäten und jeweils mehreren regionalen oder ethnischen Dialekten sowie Hybridversionen, die durch Verschmelzung mit anderen Sprachen entstanden sind, z. B. Denglisch (Deutsch/Englisch), Franglais (Französisch/Englisch) oder Spanglisch (Spanisch/Englisch). Ihr Englisch kann damit „von“ quasi überall her stammen.

Und dennoch: Vermutlich wäre von allen Orten, an denen Sie Englisch als Amtssprache erwarten, eine Institution, deren einziges offiziell englischsprachiges Mitglied kurz vor dem Austritt steht, der letzte solche Ort. Doch in der EU floriert Englisch nicht nur, es hat sich sogar eine eigene Variante ausgebildet. Genau darum geht es bei unserem Wort des Tages: Euro-Englisch.

Broder Carstensen schrieb 1986: „Das Englisch, das diese Menschen sprechen, ist eine Art von Euro-Englisch. Dabei ist es offensichtlich, dass sich dieses Englisch von dem echten aktuellen Englisch unterscheidet, das als Vorlage gedient hat.“ Mit dieser Feststellung prägte der bekannte deutsche Linguist unser heutiges Wort des Tages. Bei dem Begriff handelt sich um die Kombination aus der Kurzform für Europäisch (genauer gesagt für die Europäische Union) Euro mit der Ausgangssprache Englisch. Vereinfacht gesagt: Euro-Englisch ist die Pidgin-Variante dieser Sprache, die im Alltag von den Menschen bei der Arbeit in den EU-Institutionen gesprochen wird – eine Mischung aus Fachsprache, britischem Englisch, dem Englisch, das Nichtmuttersprachler sprechen (mit all seinen Eigenarten und typischen Fehlern), und Lehnwörtern aus den 23 anderen Amtssprachen aus dieser Gruppe.

Wie viele Arbeitsversionen der englischen Sprache ist auch das Euro-Englisch aus der Not heraus entstanden. Angesichts des Übersetzungsbedarfs der EU und der damit verbundenen Kosten könnte man annehmen, dass die gesamte Kommunikation innerhalb der EU in Form von Übersetzungen bzw. Verdolmetschungen muttersprachlicher Texte bzw. Reden stattfindet. Doch das ist nicht immer der Fall. Schriftverkehr und wichtige Konferenzen mit hochrangigen Teilnehmern werden immer übersetzt bzw. verdolmetscht, doch der Austausch zwischen den einfachen, mehrsprachigen Mitarbeitern erfolgt oftmals ohne Unterstützung eines Dolmetschers. Ein Beispiel: Ein spanischer EU-Mitarbeiter spricht kein Estnisch. Der estnische EU-Mitarbeiter wiederum ist des Spanischen nicht mächtig. Daher verständigen sich die beiden automatisch in einer Form von Englisch, die beide verstehen. Dabei fließen EU-interne Begriffe und Wendungen sowie aus ihrer Muttersprache übernommene Formulierungen ein. Im Laufe der Zeit haben sich einige nicht-englische Formulierungen in das Euro-Englisch eingeschlichen. So verwendet man beispielsweise auch non, um eine Verneinung auszudrücken. Das Wort possibility (Möglichkeit, abgeleitet von dem französischen Wort la possibilité) ersetzt immer häufiger den ursprünglich treffenderen Begriff opportunity (Gelegenheit). Und auch das aus dem Deutschen hergeleitete Handy statt dem im Standard-Englisch korrekten mobile phone hat in dieser Sprachvarietät Einzug gehalten.

Aktuell floriert Euro-Englisch, doch die Zukunft dieser Sprachvariante ist ungewiss. Englisch wird zweifelsfrei weltweit die lingua franca bleiben. Doch es ist durchaus möglich, dass Varietäten wie Euro-Englisch ihren aktuellen Status verlieren werden, da immer mehr Menschen besser Standard-Englisch sprechen (und sich in dieser Sprache sicher ausdrücken können). Ein anderer Aspekt: In einer EU ohne Großbritannien wird Englisch ein neutrales Kommunikationsmittel. Plumpe Einflussnahme oder sprachliche Dominanz wären kein Streitthema mehr. Die Ironie der Sache: Für die Kommunikation innerhalb der Europäischen Union wäre eine Sprache optimal, die ausschließlich aus europäischen Sprachen konstruiert wurde, sich aber dennoch von jeder einzelnen europäischen Sprache unterscheidet.