09.06.2020

Fintech-Sandbox

Fintech-Sandbox – Wort des Tages – EVS Translations
Fintech-Sandbox – Wort des Tages – EVS Translations

Brian Wilson, Musikgenie und Mitbegründer der Beach Boys, wird mit vielen Verrücktheiten in Zusammenhang gebracht. Eine der schillerndsten davon ist vielleicht der Sandkasten, den er um seinen Flügel herum bauen ließ – mitten in seinem Wohnzimmer. Er verband damit die Hoffnung, sich mit Sand unter den Füßen wieder wie ein Kind zu fühlen und seiner Kreativität so einen Schub verleihen zu können. Denn für Kinder gibt es bekanntlich nichts Schöneres als einen halb der Realität entrückten Ort, an dem sie frei von Zwang bauen, graben und forschen können und ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen. Wenn man dann älter und erwachsener wird, lässt die Realität allerdings oft keinen Platz mehr für Fantasie und statt unbegrenzter Möglichkeiten gibt es Konventionen. Dabei entstehen oft genau dann Innovationen, wenn Fantasie und Kreativität Raum gelassen wird! Und damit kommen wir zu einer der neuesten und innovativsten Spielwiesen für Erwachsene – der Fintech-Sandbox.

Doch bevor wir anfangen, Sandburgen zu bauen, wollen wir uns kurz mit der Herkunft des Begriffs beschäftigen. Fintech ist ein Kofferwort und besteht aus dem Wortbestandteil Finanz-, der von dem altfranzösischen Wort finance abstammt, das „Finalisierung, Zahlung oder Abwicklung einer Schuld“ bedeutet, und dem Wort Technologie, das aus dem Griechischen stammt (tekhnologia) und einen systematischen Ansatz an eine Kunst, ein Handwerk oder eine Technik bezeichnet. Der Begriff Fintech, der alle Technologien beschreibt, die zur Verbesserung der Zugänglichkeit, Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und allgemein der Nutzbarkeit von Finanzdienstleistungen eingesetzt werden, wurde 1971 geprägt und findet seit Beginn des Informationszeitalters weite Verbreitung. Sandbox, der zweite Bestandteil des Begriffs, um den es heute geht, ist eine Kombination der altenglischen Wörter sand und box. Die ursprüngliche Bedeutung stammt aus dem Jahr 1572, als mit „sand box“ ein Behältnis beschrieben wurde, in dem Sand zum Trocknen schreibnasser Tinte aufbewahrt wurde. Im Sinne von „Sandkasten“ wurde das Wort im Englischen dann interessanterweise erst 1937 erstmals verwendet, und zwar von der amerikanischen Entwicklungspsychologin Lois Barclay Murphy, die in ihrem Werk Social Behavior and Child Personality damit auf eine Stelle im Park verwies, die mit Sand gefüllt und mit niedrigen Schwellen versehen worden war, um einen Platz für spielende Kinder zu schaffen („Agatha said, ‘Want to play in the sand box, Theodore, huh? Do you?’”). Doch hier soll es um ein spezielles Konzept gehen – die Sandbox als einen sicheren Ort, an dem beispielsweise eine Software oder ein Code entwickelt oder ausprobiert werden kann. In diesem speziellen Informatik-Sinn taucht das Wort erstmals Ende 1993 im Tagungsband des 14. Symposiums der ACM (Association for Computing Machinery) zu den Grundlagen von Betriebssystemen auf, in dem das sogenannte Sandboxing als eine neue Technik beschrieben wird, mit der ein nicht vertrauenswürdiges Modul isoliert werden kann, ohne dass die Ausführungsdauer dadurch signifikant verlängert wird.

Um zu verstehen, was eine Fintech-Sandbox ist und warum sie konzeptuell notwendig ist, müssen wir kurz auf die systemischen Probleme eingehen, vor denen wir aktuell stehen. Wir leben in einer Welt, die massiven Veränderungen unterworfen ist, die zu neuen Phänomenen geführt haben – von Uber und PayPal über Venmo bis hin zu Blockchain, Kryptowährungen und Smart Contracts. Die Krux ist, dass es oft noch keine Gesetze gibt, um die entsprechenden Geschäftsaktivitäten zu regulieren, oder dass die geltenden Vorgaben, weil veraltet, nicht mehr zu unserer modernen Geschäftswelt passen oder aber in verschiedene Verantwortlichkeiten fallen. Der Mangel oder (in manchen Fällen) auch das Übermaß an regulatorischer Überwachung bzw. Unklarheiten in diesem Bereich führen dazu, dass Finanzunternehmen äußerst vorsichtig agieren. Das behindert Innovationen im Finanzdienstleistungsbereich, denn diese kosten viel Zeit und Geld, wenn der herkömmliche Weg beschritten wird. Hier kommen Fintech-Sandboxes ins Spiel: Sie räumen Unternehmen (flankiert von angemessenen Maßnahmen und in einem bestimmten Risikorahmen) einen abgeschotteten Bereich ein, in dem sie mit neuen Produkten und Dienstleistungen experimentieren können, ohne durch eine übermäßige Regulierung eingeschränkt zu werden. Im Idealfall wird dem Bereich der Finanztechnologie so mehr Raum für Innovation und damit die Chance gegeben, mehr und bessere Dienstleistungen für Banken/Finanzdienstleister und stärker auf persönliche Bedürfnisse angepasste Lösungen für die Kunden zu entwickeln.

Derzeit laufen Fintech-Sandbox-Programme in Großbritannien, wo 2016 das erste Sandbox-Programm gestartet wurde, sowie in mindestens 27 weiteren Ländern und mehreren US-Bundesstaaten. Von Lösungen, die für in Kryptowährung investierende Anleger Produkte nutzbar machen, die zuvor nur traditionellen Anlegern zur Verfügung standen, über den Einsatz von Algorithmen und maschineller Intelligenz für Kreditanträge bis hin zu Plattformen, auf denen mittels quantitativer Preisanalyse Kunstverkäufe und -akquisitionen abgewickelt werden … Das Sandbox-Konzept gibt Unternehmen die Freiheit, ihrer Fantasie auf einer Spielwiese mit vielfältigen Möglichkeiten zum Graben und Bauen freien Lauf zu lassen – und damit sind immense Chancen verbunden.