02.04.2020

Höhere Gewalt

Höhere Gewalt – Wort des Tages – EVS Translations
Höhere Gewalt – Wort des Tages – EVS Translations

Frei nach einer Antwort, die der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld 2002 bei einer Pressekonferenz auf eine Frage gab: Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen („known knowns“); es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen („known unknowns“); und dann gibt es Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen („unknown unknowns“). Derzeit leben wir in einer Zeit der „unknown unknowns“ – ein Verlauf, den niemand hätte vorausahnen können. Noch vor sechs Monaten hätten sehr wenige Menschen darauf gewettet, dass große Teile der Bevölkerung in Quarantäne geschickt werden könnten, dass wirtschaftliches Chaos Unternehmen taumeln lassen würde und dass das größte Sportereignis der Welt – die Sommerolympiade – wegen der Ausbreitung eines Virus um ein Jahr verschoben werden würde. Doch genau das ist heute der Fall. Leider kann es manchmal vorkommen, dass unvorhersehbare Ereignisse die Pläne, die wir hatten, zunichtemachen. Vertragsrechtlich werden solch unvorhersehbare Ereignisse als „höhere Gewalt“ bezeichnet – und das ist der Begriff, mit dem wir uns heute befassen.

In Verträgen bezeichnet „höhere Gewalt“ Vertragsklauseln, die Parteien von bestimmten vertraglichen Verpflichtungen entbinden, falls ein außergewöhnliches Ereignis mindestens eine der Vertragsparteien an deren Ausübung hindert. Diese Klauseln werden auch als Force-majeure-Klauseln bezeichnet, wobei zu beachten gilt, dass die Bedeutung dieses französischen Begriffs über verschiedene Rechtsordnungen mit dem deutschen Rechtsbegriff nicht immer deckungsgleich ist. Denn was eigentlich als ein „außergewöhnliches“ Ereignis gilt, kann sehr vielfältig interpretiert werden. In der Regel bezeichnet höhere Gewalt ungewöhnlich schädliche Ereignisse wie Krieg, Vulkanausbrüche, schwere Stürme, Erdbeben, Überflutung und Ähnliches – die Einwirkung einer Macht außerhalb der eigenen Kontrolle. Das Wort „Gewalt“, das heute vornehmlich verstanden wird als die Ausübung von Schaden, wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht verwendet, um die Schädigung zu beschreiben, sondern stärker auf seine früheren Wurzeln zurückgeführt. Es handelt sich bei dem Begriff nämlich um eine Ableitung des mittelhochdeutschen Verbs waltan (8. Jh.), welches „herrschen“, „(be)wirken“ oder „Macht ausüben“ bedeutet. In früherer Zeit wurde es hauptsächlich im Sinne von Herrschaft und deren Ausübung verwendet, sowohl religiös als auch politisch (Gott bzw. der Monarch als „höchste Gewalt“). So schreibt Martin Luther in seinem „Septembertestament“ (1522) von einer Hierarchie der Herrschaft in der Welt, an deren Spitze Gott als höchste Instanz steht: „IDerman sey vnterthan der vbirkeyt vnd gewalt/ denn es ist keyne gewalt/ on von Gott.“ Analog dazu wird „höhere Gewalt“ im englischsprachigen Rechtskontext auch als act of God bezeichnet.

Da die Rechtssprache gelegentlich etwas unhandlich und verwirrend sein kann, betrachten wir den Begriff aus dem finanziellen Blickwinkel auf die bevorstehende Olympiade in Tokio. Derzeit wird davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Kosten, die durch das Verschieben der Olympischen Spiele um ein Jahr entstehen, sich auf zweieinhalb bis fünf Milliarden Euro belaufen werden. Zudem wird die Verzögerung die Neuvermietung von Veranstaltungsorten sowie zusätzliche Wartungsarbeiten nötig machen und für das Olympische Dorf im Anschluss an das Ende der Spiele im August 2020 geplante Immobilienentwicklungsprojekte verhindern. Lokale Sponsoren, die mehr als drei Milliarden Euro in den Vorteil investiert haben, bei den Olympischen Spielen Werbung platzieren zu dürfen, möchten nun erfahren, welchen Einfluss die Entwicklung auf ihre Investitionen haben wird. Die Kosten der Sommerolympiade wurden 2013 noch mit 6,6 Milliarden Euro angesetzt. Einer staatlichen Prüfung zufolge sind sie allerdings inzwischen auf rund 25 Milliarden Euro angewachsen. Die große Frage lautet nun: Wer ist wofür verantwortlich und wer kann was zahlen? (Mehr darüber, was höhere Gewalt im Kontext der Olympischen Spielen bedeuten kann, erfahren Sie in unserem Artikel Sportrecht: Werden Menschen je fair spielen und was ist „höhere Gewalt“? ) Vieles davon hängt von der Interpretation von höherer Gewalt und der Formulierung der entsprechenden Klauseln ab.

Wortlaut und Interpretation sind deshalb so wichtig, weil die Definition von höherer Gewalt in verschiedenen Rechtsordnungen wie bereits erwähnt nicht deckungsgleich ist. Im französischen Recht gibt es drei Voraussetzungen für einen Fall von force majeure: Es war ein externes Ereignis; es war nicht vorherzusehen; und es war unabwendbar. Das deutsche Recht, das wie das französische Recht dem Rechtskreis des Civil Law angehört, sich aber in einigen Punkten davon unterscheidet, enthält ebenfalls ein Konzept höherer Gewalt, doch kann es unter Umständen sein, dass vertragliche Haftungsfragen offen bleiben. Im vom Common Law geprägten angelsächsischen Rechtskreis allerdings wird höhere Gewalt nicht automatisch angewendet. Alles hängt davon ab, welche Ereignisse in den Vertragsbedingungen spezifiziert wurden. Der Teufel steckt wie immer im Detail, und da das Coronavirus sich für Unternehmen in aller Welt auf ihre Fähigkeit auswirkt, bestehende Vertragsbedingungen zu erfüllen, sollten Firmenanwälte vorausschauend die spezifischen Bedingungen aller Klauseln zum Thema höhere Gewalt in Verträgen und Versicherungspolicen genau überprüfen.