
Wer sich mit der japanischen Popkultur beschäftigt, wird früher oder später über ein bestimmtes Set an Charakterarchetypen stolpern, die sich, wie in vielen anderen Bereichen der Kultur üblich, durch zahlreiche Werke verfolgen lassen. Einer dieser Archetypen ist yandere, die attraktive Person, deren Zuneigung schnell gefährliche Züge annehmen kann.
Der Begriff beschreibt Personen (in der Regel weiblich), für die eine ungesunde romantische Obsession kennzeichnend ist. Der Begriff ist ein Kofferwort, das sich aus yanderu (病んでる), was für eine „geistige Erkrankung“ steht, und deredere (でれでれ), was man mit „sich Hals über Kopf verlieben“ übersetzen könnte. Im Grunde werden damit Menschen beschrieben, deren Liebe den Ereignishorizont rationalen Denkens überschritten hat.
In der archetypischen Plotentwicklung sind Yandere-Charaktere zu Beginn häufig der ideale Partner: Sie weisen zahlreiche attraktive Facetten auf und sind so verschossen in das Objekt ihrer Begierde, dass man verrückt sein müsste, sie nicht zu mögen und zurückzuweisen. Während rationale Menschen allerdings erkennen, dass eine Beziehung sich entweder weiterentwickelt oder beendet wird, weil sich nach der anfänglichen Verzückung die Dynamik zwischen den Partnern ändert, stellt diese Erkenntnis sich bei Yandere-Charakteren nicht ein. Schlimmer noch: Sie betrachten diese Entwicklung als Folge einer Fremdeinwirkung in ihre Beziehung und reagieren darauf schnell und ungestüm. Kennen Sie den Film Eine verhängnisvolle Affäre oder haben Sie Stephen Kings Misery gelesen? Wenn ja: Glenn Closes Charakter Alex Forrest und Annie Wilkes aus Kings Roman sind perfekte Beispiele für Yandere-Charaktere.
Obwohl der Yandere-Archetyp bereits seit seiner Einführung in Mobile Suit Zeta Gundam im Jahre 1985 im Manga- und Anime-Bereich präsent ist, gewann der dafür inzwischen gebräuchliche Begriff erst um das Jahr 2000 herum an Popularität. Wie man bei Worten mit Anime-Bezug erwarten kann, verbreitete sich der Begriff dank 4chans Anime-Board im Internet und gelangte auf diesem Weg immer mehr Leuten zur Kenntnis.
Neben der Verwendung des Begriffs im Anime- und Manga-Kontext weist yandere Bezüge zu einem älteren Konzept in der japanischen Kultur auf. Dem Konzept der „Yamato Nadeshiko“, der idealisierten Frau im Japan des 19. Jahrhunderts, lagen die konfuzianischen Ideale der Loyalität innerhalb der Familie und eines geradezu feudalistischen Gehorsams zugrunde, hinter denen sich ein nicht sichtbarer, aber stets präsenter Wille verbarg, die, die der Frau am Herzen lagen, um jeden Preis zu beschützen.
Während es auf der einen Seite also problematisch werden kann, einer Person zu begegnen, die die Merkmale des heutigen Wortes trägt, kann es aus einer bestimmten Perspektive allerdings auch Vorteile mit sich bringen. Wer würde sich nicht einen treuen, hingebungsvollen Menschen wünschen, der alles geben würde, um einen zu beschützen? Nichtsdestotrotz ist es ein schmaler Grat zwischen überfürsorglichem Verhalten und dem Wegjagen flirtender Arbeitskollegen mit einer Axt (ein Verweis auf das Spiel Yandere Simulator).