22.07.2014

Graphomanie

In unserem heutigen Wort des Tages befassen wir uns mit einem relativ seltenen Begriff: Graphomanie (griechisch γραφειν ‚schreiben‘ und lat. mania ‚Wahnsinn‘) beschreibt das Phänomen der Schreibsucht, den krankhaften Zwang zu schreiben. Erstmals tauchte der Begriff Graphomanie 1827 in einem Satiremagazin auf, in dem sich Medizinstudenten aus Edinburgh im Wesentlichen über ihre Professoren an der Universität lustig machten. Mit dem Titel ist alles gesagt – wir schreiben, um sicherzugehen, dass nahezu NIEMAND uns verstehen kann: University Coterie; being violent ebullitions of graphomaniacs, affected by cacoethes scribendi, and famae, sacra fames. Ironischerweise ist einer der wichtigsten Verweise auf diese Arbeit unter forgottenbooks.org. zu finden. In der heutigen Zeit erfüllt Facebook diesen Zweck.

Im Bereich der Graphomanie gibt es zwei große Namen: Nordau und Kundera.

Max Nordau, in Ungarn geborener Jude und Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation, schrieb selbstverständlich in deutscher Sprache. Sein berühmtestes Werk, Entartung, wurde 1892 veröffentlicht und schon bald in viele Sprachen übersetzt. In diesem Werk beschreibt er Graphomanen als halb geisteskranke Menschen, die einen starken Impuls verspüren, zu schreiben. In derartigen Fällen wisse der Autor über nichts anderes als seine mentalen und moralischen Krankheiten zu schreiben. Für ihn waren Menschen wie Nietzsche oder Wagner Künstler, die, unter anderem aufgrund ihrer antisemitischen Haltung, zum moralischen Niedergang ihrer Generation beitrugen und Vorboten einer unmittelbar bevorstehenden menschlichen Katastrophe waren. Damit sollte er Recht behalten. Ein böser Treppenwitz der Geschichte: Die Nationalsozialisten griffen seinen Begriff auf, um entartete Kunst zu verbannen. Dabei galt nahezu jede moderne Kunst, aber insbesondere nicht deutsche und jüdische Kunst als entartet.

Milan Kundera schreibt in seinem Werk Das Buch vom Lachen und Vergessen ausführlich über obsessives Schreiben. Das Phänomen Graphomanie trete zutage, wenn Menschen so wohlhabend sind, dass sie genügend Zeit für sinnlose Tätigkeiten haben, wenn Menschen isoliert sind und kein sozialer Austausch stattfindet. In Frankreich, so macht sich der Autor lustig, einem Land in dem quasi nichts passiere, gebe es 21 Mal mehr Schriftsteller als in Israel. In diesem Buch möchte ein Graphomane ein großes Publikum unbekannter Leser haben. Die logische Schlussfolgerung: Wenn viele Menschen Graphomanen sind, gibt es niemanden mehr, der liest!