03.01.2012

Schönes neues Vokabeljahr

Schönes neues Vokabeljahr
Schönes neues Vokabeljahr

Wenn es für Wörter einen eigenen Beliebtheitswettbewerb gäbe, dann wäre dies im englischsprachigen Raum wohl die Wahl zum „Word of the Year“ bzw. „WTOY“ (entsprechend der amerikanischen Vorliebe für Akronyme), die von der American Dialect Society zusammen mit Webster-Merriam und dem Global Language Monitor ins Leben gerufen wurde. Welche Wörter es auf die Liste schaffen, hängt von einer Reihe geheimer und obskurer Regeln ab, aber vor allem von der Zahl der Tweets, die sie erzeugen.

Vielleicht ist dies die beste Methode, die Lebendigkeit einer Sprache zu zelebrieren.
Die Vielzahl der Medien, über die wir miteinander kommunizieren – von iDevices (ja, das Wort gibt es im Englischen tatsächlich) bis hin zu normalen Computern und Pagern – fördert eine linguistische Kreativität, die gemischte Ergebnisse hat. In einer dieser romantischen Sommerkomödien bringt die von Drew Barrymore gespielte Figur es auf den Punkt:

„Dieser Typ hat mir auf meine Mailbox im Büro gesprochen, dann habe ich ihn zuhause angerufen, darauf hat er mir auf mein Blackberry gemailt, dann habe ich eine SMS geschrieben und jetzt muss ich dauernd diese ganzen verschiedenen Portale checken, um mir über sieben verschiedene Geräte eine Abfuhr zu holen. Das ist anstrengend.“

Dieses Jahr hat nicht nur Drew Barrymore vergebens auf ein Happy End gewartet. Das sturmgebeutelte Jahr 2011 hat insbesondere Wörter im Zusammenhang mit der Finanzkrise und politischen Unruhen hervorgebracht. Die Folge war eine Fülle an ziemlich pessimistischen Vokabeln wie „Flash Crash“, „Moratorium“, „LIBOR“, „Globale Wirtschaftskrise“, „TARP“, „Arabischer Frühling“ (und analog dazu: langer syrischer Winter), „Squeezed Middle“ (ausgequetschte Mittelschicht; dieser Begriff wurde vom Oxford Dictionary zum WOTY gewählt), „Sodcasting“ (akustische Umweltverschmutzung – mein persönlicher Favorit, der es leider nicht auf die Liste geschafft hat) und „Occupy“ (Global Language Monitor). „Occupy” ist ein interessantes Wort, vor allem da englischsprachige Personen im übrigen Europa zuerst durch die „indignados“ in Spanien, wo die Einschnitte und Sparmaßnahmen am deutlichsten zu spüren waren, von diesem Konzept erfuhren, als arbeitslose Arbeiter die Puerta del Sol in Madrid besetzten. Der Begriff schwappte dann nach Frankreich über und wurde zu „indignés“. Die britische Presse machte später „the indignant“ daraus (wobei einiges an moralischer Berechtigung verloren ging).

Der amerikanische Präsident Obama vergriff sich wohl auch etwas im Wort, als nach dem Gewinn der Kongresswahlen durch die Republikaner sagte, dass die Demokraten ein „Shellacking“ (komplette Niederlage) erlitten hätten. Ich dachte immer, „shellacking“ bezöge sich auf das Polieren von Möbeln, Böden usw. Die Medien waren ungewöhnlich zurückhaltend, zitieren das Wort jedoch immer noch in Anführungszeichen – was stets ein schlechtes Zeichen ist.

Die Presse war weniger gnädig, als Obama in einem vom Geld der amerikanischen Steuerzahler finanzierten Luxusbus mit Spezialanfertigung aus Kanada durch den Mittleren Westen der USA tourte, um die Beschäftigung in den USA anzukurbeln. Angesichts dieses Faux-pas erhielt der Präsident, der einen Harvard-Abschluss hat, von der New York Post den hämischen Spitznamen „Canucklehead“ (eine in den USA gebräuchliche umgangssprachliche Bezeichnung für einen – einfältigen – Kanadier).

Die Königin aller Wortbildungsstörungen ist ohne Zweifel Sara Palin, Hockey-Mum aus Alaska, die fröhlich Wörter wie das schon berüchtigte „refudiate“ („zurückabweisen“) ausspuckte (und sich im gleichen Atemzug mit verheerenden Folgen mit Shakespeare verglich). Positiv zu vermerken ist, dass es für ihren allgemeinen Mangel an Bildung, ihre Fehlschlüsse und unsinnigen Floskeln jetzt eine eigene legitime Bezeichnung gibt – Palinismus.

Das richtige Wort zu finden, war im Allgemeinen keine sonderliche Herausforderung für Kommentatoren, die das Jahrzehnt beschreiben, in dem wir uns beim Reisen an zahlreiche Einschränkungen und Ärgernisse gewöhnen mussten. Unsere Belohnung, wenn wir uns am Flughafen auf der anderen Seite der Sicherheitskontrolle ohne Schuhe, ohne Socken und Gürtel, ohne Jackett, ohne Armreifen und Armbanduhr und am allerschlimmsten ohne Handy wiederfinden, ist eine intensive Leibesvisitation („enhanced pat down“) oder gar ein „gate rape“ durch einen unscheinbaren, im Gegensatz zu uns vollständig gekleideten Sicherheitsbeamten.

Auf dem Flughafen Heathrow erreichte diese Prozedur einen neuen Tiefpunkt, als ich vor einem Flug von London nach Algerien zusätzlich gefragt wurde, ob meine Reisedokumente echt seien. Nun ja. Die gute Nachricht ist, dass es hierfür, so wage ich zu behaupten, bestimmt ein (nicht so höfliches) arabisches Wort gibt.

Entsprechend meinen guten Vorsätzen für 2012 – darunter: nicht mehr ohne guten Grund allzu bissig und grantig zu sein (und außerdem mehr Gemüse zu essen) – habe ich als englische Muttersprachlerin beschlossen, dass die deutsche Sprache die derzeit umgehende Existenzangst zweifellos am besten beschreibt. Mein Wort des Jahres ist deshalb ein deutsches Wort. Wer sonst hätte sich ein solch wunderbares Wort einfallen lassen können wie Kummerspeck – das überflüssige Gewicht, das man sich aus Frust anfrisst? So steige ich also wieder auf das Laufband, um mir die an Weihnachten angefutterten Pfunde abzutrainieren, und nehme mir vor, 2012 konsequent Palinismen zu vermeiden. Man will ja kein „Canucklehead“ sein! Das Motto ist: Lesen! Lesen! Lesen!

Ich wünsche Ihnen allen ein frohes neues Jahr!

TARP (Troubled Asset Relief Program) – Programm der amerikanischen Regierung zum Aufkauf von Anteilen an Finanzinstituten.
LIBOR (London Interbank Offered Rate) – der Libor-Satz ist der durchschnittliche Zinssatz, den führende Banken in London für Kredite an andere Banken berechnen.
Squeezed Middle – Die Gruppe der Bevölkerung, die während wirtschaftlich schwierigen Zeiten als besonders von der Inflation, Lohnstopps und Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben betroffen gilt, und hauptsächlich aus Personen mit geringen und mittleren Einkommen besteht.
Sodcasting – ein umgangssprachlicher Begriff für lautes Musikhören über das Handy mit Kopfhörern in der Öffentlichkeit.